WHITE LIGHTNIN' (2009)
WHITE LIGHTNIN‘ (2009) Regie: Dominic Murphy
Jesco White ist bereits als Kind ein Rebell. Seine gnadenlos zerstörerische Rebellion macht vor nichts Halt, vor allem nicht vor sich selbst. Sein Vater, ein begnadeter Tänzer, will ihm etwas geben, wofür es sich zu leben und zu kämpfen lohnt, und bringt ihm das bei, was er selbst am besten beherrscht: den Mountain Dance. Doch das Böse schläft nicht und vor allem in Jescos Geist ist es hellwach. ****** Nachdem ich als Jury-Mitglied die letzten Wochen mit den Filmen der FRIGHT NIGTS 2021 verbracht habe und von vielen wirklich massiv beeindruckt bin, musste ich einen Film finden, der außergewöhnlich genug ist, um meine Begeisterung weiterbrennen zu lassen und nicht einen wehmütigen und selbstmitleidigen Fright-Nights-Hangover auszulösen. Was wäre da naheliegender, als zum Auftakt der STÖRKANAL Filmreihe zu greifen? Und ja, ich habe diesen Film am letzten Wochenende tatsächlich zum ersten Mal gesehen. Und ja, Schande über mich, dass ich das bisher verabsäumt habe. Der Film beruht lose (sehr lose!) auf dem Leben des tatsächlichen Mountain-Dancers Jesco White. Mountain Dance ist salopp ausgedrückt eine Art Stepptanz und dieser Film hier ist wahrscheinlich der englischste Film, der jemals über irgendetwas Amerikanisches gedreht worden ist. Es dauert nicht lange und man muss an Filme wie BAD BOY BUBBY (1993) oder EX DRUMMER (2007) denken und damit dürfte auch klar sein, in welche Kerbe WHITE LIGHTNIN‘ schlägt und glaubt mir, es ist ein Schlag. In die Magengrube, in die Fresse, in jedes hochstilisierte und supersaubere Filmverständnis, das man über Jahre hinweg kultiviert hat. Und das ist eine echte Offenbarung. Regisseur Dominic Murphy peitscht und zerrt uns durch das drogendurchseuchte Delirium einer White-Trash-Legende und wir taumeln ihm willenlos hinterher wie frisch geschlüpfte Entenküken. Wir hängen an den Lippen des phasenweise auktorialen Ich-Erzählers, der allwissend und sogar wertend aus dem cineastischen Off auf sein eigenes Leben zurückblickt. Wir versinken in den Augen des nahezu schon qualvoll charismatischen Edward Hogg, der den erwachsenen Jesco verkörpert. Wir wollen Owen Campbell, der dem kindlichen Jesco seine physische Form verleiht, an unser Herz drücken und ihn retten. Das Kind ist ein entzückendes Biest, der Erwachsene ein faszinierender Teufel. Und gemeinsam kreieren die beiden Schauspieler einen Sog, dem man sich nicht entziehen kann. Die Bildsprache ist in manchen Momenten so sauber wie ein Schwarz-Weiß-Stillleben aus der Redneck-Hölle, nur um sich gleich darauf der manischen Hysterie eines beinah zufälligen Avantgarde-Exzesses hinzugeben. Auch wenn das meiste nicht die Wirklichkeit abbildet, sondern die Überspitzung des Realen über die Kante des gesellschaftlich verordneten guten Geschmacks hinaustreibt, glaube ich, was ich sehe. Und ich verstehe es. Das Elend, die Hoffnung, die Krankheit, der religiöse Wahn des amerikanischen Bible Belt. WHITE LIGHTNIN‘ ist aber nicht nur gesellschaftskritisch, sondern darüber hinaus eine Liebeserklärung an den Tanz, ein filmisches Dokument der absoluten und befreienden Hingabe. Persönlich hat es mich ebenso begeistert wie fast schon traumatisiert, Carrie Fischer in genau dieser Rolle in genau diesem Film zu sehen. Es ist beinah so, als würde man auf dem Dachboden der Eltern die alten VHS-Kassetten durchstöbern und entdecken, dass Mama eine geheime Zweitkarriere als Erotikdarstellerin verfolgt hat. Wenn überhaupt möglich, liebe ich Carrie Fischer nun noch ein wenig mehr. *****
At moments the imagery is as clean as a black-and-white still life from redneck hell, only to surrender immediately to the manic hysteria of an almost involuntary avant-garde excess. Even if most of it doesn't depict reality, but rather pushes the exaggeration of the real over the edge of socially prescribed good taste, I believe what I see. And I understand it. The misery, the hope, the sickness, the religious delusion of the American Bible Belt. WHITE LIGHTNIN' is not only socially critical, but beyond that a declaration of love for dance, a cinematic document of absolute and liberating devotion.
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